Aus dem Dorf in die Gemeinde

24.07.2024 Betreuung & Schutz

Die Gründung von SOS-Kinderdorf nach dem zweiten Weltkrieg in Österreich und die Entstehung der SOS-Kinderdörfer rund um die Welt stand unter einem Gedanken: Kindern und Jugendlichen, die ihre Eltern verloren haben, ein liebevolles Zuhause und eine selbstbestimmte Zukunft zu ermöglichen.

Wir sprechen mit Programmleiterin Erika Dittli darüber, warum die Dörfer sich wandeln müssen, und wie diese Transformation konkret aussehen kann.

Erika, kannst du erklären, wann und aus welchem Antrieb heraus die Programme zur Stärkung der Familien entstanden sind?

Die Plätze in den SOS-Kinderdörfern waren und sind bis heute sehr limitiert. Zum Teil «klopften» schon Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre notleidende Familien bei den Dörfern an, um ihre Kinder aus Verzweiflung abzugeben, für die das Angebot der alternativen Betreuung ja gar nicht gedacht war. Vielerorts war die Not und der daraus entstehende Bedarf viel grösser als das Angebot. Und es wurde klar, dass der Bau immer weiterer Dörfer viel zu teuer werden würde und die Nachfrage trotzdem nie umfassend bedienen könnte. Die Lösung lag auf der Hand: Verletzliche und armutsbetroffene Familien zu unterstützen, damit sie sich um sich selbst kümmern können und langfristig eine gesicherte Existenz haben. Im Rahmen dieser damals neuen «Familienstärkungsprogramm» werden teilnehmende Familien seitdem durchschnittlich vier Jahre lang unterstützt und begleitet.

Wie sieht die Zukunft der SOS-Kinderdörfer aus?

In Zukunft geht es darum, die Dörfer zu öffnen und stärker in die Gemeinde zu integrieren – bildlich gesprochen: bestehende Mauern einzureissen. Das Konzept der alternativen Betreuung ist aber Teil unserer DNA und bleibt dort, wo der Bedarf besteht, selbstverständlich erhalten.

Wie kann man sich diese Transformation konkret vorstellen und wie lange dauert eine solche «Umstellung»?

Dass hängt von den lokalen Bedingungen und Bedürfnissen ab. Wo die Sicherheitslage unbedenklich ist, öffnen wir die Dörfer, sodass die Kinder und Jugendlichen stärker am Leben in der umliegenden Gemeinde teilnehmen, oder umgekehrt verletzliche Familien aus den Familienstärkungsprogrammen im Dorf ein neues Zuhause und zusätzliche Unterstützung finden. Ein gelungenes Beispiel ist das SOS-Kinderdorf Kfarhay im Libanon, das Gewächshäuser, Gärten und alternative Energiequellen im Dorf installiert hat und damit mittlerweile nicht nur sich, sondern auch Teile der umliegenden Gemeinde versorgt. Ein solcher Öffnungsprozess erfolgt jedoch nicht über Nacht und wird uns noch lange begleiten.

Was passiert mit Kindern und Jugendlichen, die elternlos sind oder deren Familien sich temporär nicht um sie kümmern konnten oder können, in Zukunft?

In diesen Fällen ändert sich nichts an unserer Philosophie: Die Kontinuität der Betreuung und das Wohl des Kindes stehen für uns an erster Stelle. Abhängig von den Umständen bestehen folgende Möglichkeiten:

  • Zusammenführung mit Herkunftsfamilien: Wenn es die Umstände wieder erlauben, mit den Eltern, Grosseltern oder dem erweiterten Verwandtschaftskreis.
  • Verstärkung von Prävention: Zusätzlicher Fokus auf Programme, die Familien stärken und so das Auseinanderbrechen von Familien von Vornherein verhindern
  • Aufnahme in SOS-Familien: Je nach Möglichkeit und lokalen Programmen entweder in bestehenden SOS-Kinderdörfern oder in SOS-Familien, die bereits in die Gemeinde integriert sind.

SOS-Kinderdorf Schweiz unterstützt in der eigenen Programmarbeit ja auch einige SOS-Kinderdörfer. Was passiert mit diesen? Bleiben sie in die Programmarbeit eingebunden?

Absolut, teils sogar noch enger als vorher. Durch die Transformation ergeben sich neue Möglichkeiten, die Arbeit in bestehenden Dörfern mit präventiven, stärkenden und gemeindebasierten Komponenten zu verbinden. Das ist für uns eine zusätzliche Möglichkeit, die Integration in den jeweiligen Gemeinden zu unterstützen und vor Ort neue Perspektiven zu schaffen. Ein positives Beispiel ist hier das SOS-Kinderdorf in Estelí. Auch hier setzen wir uns dafür ein, dass der Kontakt zu den leiblichen Eltern oder nahen Verwandten erhalten bleibt. Sieben Kinder aus diesem SOS-Kinderdorf können in den nächsten drei Jahren ganz in ihre Herkunftsfamilie zurückkehren. Sie und ihre Familien werden dabei sorgfältig begleitet und erhalten massgeschneiderte materielle und psychologische Hilfe. So stellen wir sicher, dass die Kinder weiterhin in einem schützenden und förderlichen Zuhause aufwachsen.

Wie beurteilst du persönlich diese Möglichkeit der Transformation für die SOS-Kinderdörfer?

Aus Programmsicht und auch aus meinen persönlichen Erfahrungen und Gesprächen vor Ort befürworte ich dies sehr. Die lokal angepasste Transformation und Umfunktionierung der Dörfer sind im besten Interesse der Kinder. Sie sind so noch besser integriert in die eigene Gemeinde, von klein auf. Ich habe zuletzt auch mit zwei SOS-Müttern gesprochen, aus dem äthiopischen Hawassa, die den Schritt, mit ihren Kindern wieder in die Gemeinde zu ziehen, bereits gegangen sind. Sie sehen die Vorteile dieser Veränderungen und unterstützen diese. Ganz wichtig ist aber festzuhalten: Die Kontinuität der Betreuung hat nach wie vor und auch in Zukunft oberste Priorität in unserer Programmarbeit.

Dieses Projekt hilft, folgendes UN-Nachhaltigkeitsziel zu erreichen:

Eindrücke aus SOS-Kinderdörfern

Inhaltsverantwortlich:

David Becker

Wenn ich Content in Wort und Bild erarbeite, begeistert mich das grosse Ganze und berühren mich die feinen Details.

Diese Beiträge könnten Sie auch interessieren

Äthiopien

Gemeindebasierte Institutionen für Kinder in Not

Nicaragua

Michèle Burkart spricht mit Edith

Nicaragua

Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen

Nepal

Nisha ist nicht zu stoppen

Paten-Porträt: «Ich möchte langfristig helfen»