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Beschneidung von Frauen und ihre Folgen
Mit SOS-Kinderdorf spricht Frau Prof. Dr. Kuhn, Fachärztin für Gynäkologie, Geburtshilfe und Urogynäkologie im Inselspital in Bern, über die Beschneidung von Frauen und ihre Folgen.
Wie verbreitet ist die Beschneidung von Frauen in der Schweiz?
Das ist angesichts der hohen Dunkelziffer sehr schwer zu sagen und wir können nur von Schätzungen ausgehen. Die Migrantinnen in der Schweiz haben den Besuch beim Frauenarzt/Frauenärztin nicht auf ihrer Agenda, da sie aus Ländern und Kulturen kommen, wo man den regelmässigen Besuch zum Arzt nicht kennt. Deswegen können wir nur ungefähre Schätzungen machen. Terre des Femmes spricht von Zahlen zwischen 7’500 bis 15’000 Mädchen. Es ist eine sehr grosse Bandbreite, bei der die Frauen noch nicht mitgezählt wurden. Man kann also von einigen tausend Frauen und Mädchen ausgehen, die hier in der Schweiz leben.
Kommen die Frauen und Mädchen beschnitten in die Schweiz oder werden die Beschneidungen auch hier in der Schweiz vorgenommen?
In der Regel werden die meisten Mädchen und Frauen im Ausland beschnitten. Ich gehe auch stark davon aus, dass anerkannte Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz das hier nie machen würden. Man kann es aber nicht gänzlich ausschliessen. Insgesamt ist es den Gynäkologen sehr bewusst, dass die Beschneidung von Frauen in der Schweiz verboten ist. Es gibt auch einen Expertenbrief und eine Anleitung, wie damit umgegangen werden soll. Wenn, dann ist es eine kleine Minderheit, die hier in der Schweiz beschnitten wurde.
Wie werden Schweizer Ärzte mit dem Thema Genitalbeschneidung konfrontiert?
In der Frauenklinik in Bern werden wir in mehreren Bereichen mit der Genitalbeschneidung konfrontiert: In der Geburtshilfe, wenn die Frauen in die Schwangerschaftsvorsorge kommen, besprechen wir, was wir wegen der bevorstehenden Geburt, was mit der Beschneidung geschehen soll – was möglich ist und was nicht. Bei Informationsnachmittagen hier in Bern, die von einer Kollegin, einer Hebamme und mir veranstaltet werden, besprechen wir das Thema und signalisieren, dass betroffene Frauen bei uns eine Anlaufstelle haben. In der gynäkologischen Sprechstunde können alle möglichen Probleme vorkommen: Probleme beim Wasserlösen, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Probleme schwanger zu werden, Fragen, ob man die Genitalbeschneidung wieder rückgängig oder ungeschehen machen kann und psychologische Probleme. Wir sind somit in der Gynäkologie und in der Geburtshilfe damit konfrontiert.
Müssen Schweizer Ärzte Fälle von Genitalbeschneidung melden?
Ich bin keine Rechtsexpertin, aber bei erwachsenen Frauen sind wir nicht dazu verpflichtet, die Beschneidung von Frauen zu melden. Bei Kindern oder wenn Verdacht vorliegt, dass eine Frau ihr Kind ins Ausland mitnehmen will, um es beschneiden zu lassen – dann dürfen wir handeln. Das ist aber bisher noch nie vorgekommen, da die Leute sehr gut Bescheid wissen, dass die Genitalbeschneidung in der Schweiz verboten ist. Erwachsene Frauen klären wir auf, was sie tun können, wenn sie beschnitten sind und schwangere Frauen klären wir darüber auf, dass die Genitalbeschneidung in der Schweiz verboten ist. Die Aufklärungsarbeit hat aber einige Zeit in Anspruch genommen. Auch weiterhin besteht Ausbildungsbedarf für Assistenzärztinnen und -Ärzte, damit sie wissen, wie wir hier in der Schweiz mit dem Thema umgehen. Im Rahmen der SGGG-Jahrestagung bieten wir regelmässig solche Kurse an.
Haben Sie schon einmal erlebt, dass aufgrund einer Meldung Behörden gegen Familien vorgehen?
Nein, das habe ich noch nie erlebt.
Wie reagieren die entsprechenden Personen aus unterschiedlichen Kulturen, wenn Sie Aufklärung zu dem Thema betreiben und auf das Gesetz verweisen? Treffen Sie als Europäerin nicht auf Widerstand, wenn sie die Praxis bekämpfen?
Ich habe einen kleinen Vorteil, da ich zwei Jahre im Sudan gearbeitet habe und Sudanesisch spreche. Ohne Sprachbarriere ist es für mich viel einfacher. Insgesamt ist es aber ein heikles Thema, sowohl hier im ,,Westen’’ als auch zum Beispiel im Sudan. Die Leute möchten nicht, dass wir ihre Traditionen als «primitiv» empfinden. Das Thema ist allgemein schwer diskutierbar, denn in vielen Kulturen redet man nicht über intime Probleme, ausser es ist ein Notfall. Somit wird von uns viel Taktgefühl erwartet. Mit der Aufklärungsarbeit in der Frauenklinik, die wir seit zehn Jahren machen, merken wir aber, dass die Frauen bei den Informationsveranstaltungen sich mehr und mehr trauen Fragen zu stellen und offener werden. Vor allem jüngere Frauen werden dem Thema gegenüber aufgeschlossener. Obwohl Genitalbeschneidung bei Frauen heikel ist, muss sie dennoch thematisiert werden. Es gehört einfach auf den Tisch, weil die körperlichen Einschränkungen und die daraus resultierenden seelischen Probleme nicht wegzudiskutieren sind oder gar totzuschweigen. Wenn jemand HIV-positiv ist, kann ich auch nicht einfach sagen, dass alles gut ist. Das Thema wie es zum Beispiel zur Ansteckung gekommen ist und was man dagegen tun kann, muss angesprochen werden, auch wenn es nicht willkommen ist. Es ist hier unsere Arbeit, die Folgen von weiblicher Genitalbeschneidung zu erklären und so zu vermeiden, dass sie fortgesetzt wird. Natürlich ist das anspruchsvoll, denn damit stossen wir an kulturelle Grenzen. Die Tradition Mädchen zu beschneiden, besteht seit Jahrtausenden und ist somit tief in den Köpfen der Menschen aus bestimmten Kulturkreisen verankert.
Frau Prof Dr.Kuhn ist Fachärztin für Gynäkologie, Geburtshilfe und Urogynäkologie im Inselspital in Bern.
Was genau wird bei der Genitalbeschneidung gemacht?
Zunächst möchte ich erwähnen, dass es vier Typen der Beschneidung von Frauen gibt, gemäss Einteilung nach WHO.
- Typ I (Klitoridektomie): Teilweise oder komplette Entfernung der äusseren Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut.
- Typ II (Exzision): Teilweise oder vollständige Entfernung der äusseren Klitoris und der kleinen Schamlippen mit/ohne Entfernung der grossen Schamlippen.
- Typ III (Infibulation oder «pharaonische Beschneidung»): Verengung der vaginalen Öffnung durch die künstliche Erzeugung einer bedeckenden Gewebeschicht. Dies geschieht, indem die äußeren und/ oder inneren Schamlippen zusammengenäht werden, wobei die Klitoris entfernt werden kann oder auch nicht.
- Typ IV: Alle anderen Formen, welche die weiblichen Genitalien aus nicht medizinischen Gründen schädigen, wie zum Beispiel das Einstechen oder Einreissen der inneren und äusseren Genitalien.
Allerdings lassen sich nicht alle Opfer stringent dieser Klassifizierung zuordnen. Je nach Region, variieren die Fälle. Das liegt daran, dass die Beschneidung häufig von medizinisch unausgebildeten Menschen gemacht wird, die einfach irgendetwas machen. Auch sollte man bedenken, dass sich kein Kind ohne Gegenwehr beschneiden lassen wird, denn die Prozedur ist sehr schmerzhaft. Je nachdem wie stark sich ein Kind wehrt, welches Alter das Kind hat und in welchem Land bzw. Region die Genitalbeschneidung stattfindet, wird unterschiedlich in den Intimbereich geschnitten, so wie ich es vorher beschrieben habe. Im mildesten Fall wird die Vorhaut der Klitoris geritzt. Ich denke, dass das in der Praxis nicht immer machbar ist, wenn ich mir ein elfjähriges Kind vorstelle, das sich vehement wehrt. Wie will man da die Vorhaut der Klitoris identifizieren? Das ist unmöglich. Deswegen finde ich die Einteilung in die verschiedenen Typen medizinisch zwar sinnvoll, aber in der Praxis sieht es ganz anders aus. Und die Horrorgeschichten, die wir schon alle gehört haben, habe ich tatsächlich im Sudan erlebt. Vor meinem Auslandsaufenthalt, vor dreissig Jahren, hatte ich allerdings noch nie etwas von Genitalbeschneidung gehört. Im Sudan sind die meisten Frauen exzidiert, was so viel bedeutet, dass der komplette Intimbereich fehlt und dass die Scheidenöffnung verschlossen ist. Idealerweise ist die Öffnung noch so gross wie ein Hirsekorn, damit das Menstruationsblut abfliessen und die Frau noch Wasser lassen kann, aber es gibt auch gravierendere Fälle. Als ich so einen Intimbereich das erste Mal sah, dachte ich die Frau hatte einen Unfall. Niemand wollte mir Auskunft geben und ich habe dann viel Aktivität an den Tag legen müssen, um herauszufinden, was wirklich geschehen war. Es variiert also von ein bisschen Ritzen bis zur kompletten Ausschneidung des Intimbereichs.
Was für Folgen tragen die beschnittenen Frauen davon?
Wasserlassen ist schwer möglich, Geschlechtsverkehr ist manchmal gar nicht möglich oder sehr schmerzhaft, Komplikationen bei der Geburt, aber Traumata und Sterilität sind ebenfalls nicht zu vernachlässigende Folgen. Besonders die Sterilität impliziert schwerwiegende Probleme. Man kann sagen, dass sich allein daraus weitreichende Beeinträchtigungen entwickeln: Frauen in diesen Kulturen gelten als die Schuldigen, wenn sie unfruchtbar sind und werden häufig aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Dadurch entsteht erst einmal emotionaler Stress, der schnell von wirtschaftlichem abgelöst wird. Sie hat ja keine Ausbildung und kann sich nicht selbst versorgen. Bleibt die Frau beim Ehemann, weil er sie vielleicht liebt und nicht verstossen will, dann schnappt auch hier die wirtschaftliche Falle zu, denn es gibt in diesen Ländern keine Altersvorsorge. Somit ist ein Ehepaar langfristig wirtschaftlich nur abgesichert, wenn es genügend Kinder hat. Leider ist der Bildungsstand der Menschen oftmals sehr niedrig und in ländlichen Regionen auf ganz tiefem Niveau, sonst wüssten sie, dass Beschneidung die Fruchtbarkeit der Frau gefährdet und sie sich selbst in die Gefahr bringen, keine Altersabsicherung in Form von vielen Kindern mehr zu haben.
Wenn sie die Genitalbeschneidung der Frau auf den Mann übertragen würden, welche Teile des Geschlechtsbereichs müssten dem Mann entfernt werden, damit er den gleichen Zustand der beschnittenen Frauen erreicht?
Im Prinzip reicht das Ausmass von Eichel einritzen und abschneiden bis zur Penisamputation. Es ist übertrieben, aber es stimmt so vom Ausmass.
Haben Sie schon einmal Ihre Patienten gefragt, warum sie diese Genitalbeschneidung vornehmen lassen (kulturelle Gründe) oder sich aus Interesse selbst informiert oder versucht Antworten auf diese Frage zu finden?
Ich hatte einmal ein sehr interessantes Gespräch mit einem Ehepaar aus dem Sudan. Der Mann war sehr offen, eine Revision der Beschneidung seiner Ehefrau vorzunehmen. Er drängte sogar und argumentierte, dass es medizinisch viel besser für seine Frau sei. Die Frau wollte dies aber auf keinen Fall, weil der Intimbereich nach ihrer Vorstellung so aussehen müsse. Das war sehr überraschend für mich. Diese Erfahrung haben wir auch in der Geburtshilfe gemacht. Einige Frauen wollten den Intimbereich nach der Geburt wieder zugenäht haben.
Was machen sie dann?
Wenn eine Frau gebärt, deren Intimbereich komplett zugenäht ist, dann müssen wir die Scheidenöffnung aufmachen, damit das Kind geboren werden kann. Wenn der Wunsch da ist, dies nachher wieder zuzunähen, dann müssen wir die Geburtsverletzung versorgen, aber im Rahmen der für die Gesundheit der Frau vertretbaren Grenzen – das heisst nicht wieder zunähen. Die Harnröhre muss frei sein und die Scheidenöffnung muss adäquat offen sein.
Haben Sie positive Beispiele im Sudan erlebt, wo jemand die Einsicht erlangt hat, dass die Beschneidung von Frauen sich nicht positiv auf die Gesundheit der Frau auswirkt?
Im Sudan ist es eine andere Geschichte. Wenn der Mann in der Hochzeitsnacht bemerkt, dass die Frau nicht beschnitten ist, dann kann er sie zurückgeben und dann erleidet die Frau, die vorher beschriebenen wirtschaftlichen Folgen, aufgrund mangelnder Ausbildung. Wenn die Frau zurückgegeben wird, dann ist sie gleichzeitig entehrt und kann niemals wieder verheiratet werden. Aber hier in der Schweiz habe ich sehr positive Erfahrungen gemacht. Pro Jahr sehe ich etwa 30 Frauen mit Problemen, die zu mir in die Sprechstunde kommen, um die Möglichkeiten zu besprechen. Wir haben hier milde Therapien, zum Beispiel mit dem Laser, damit der Intimbereich verbessert werden kann. Aber insgesamt sieht die traurige Wahrheit so aus, dass das, was ab ist, nicht mehr angenäht werden kann. Manchmal finden wir Überbleibsel von der Klitoris, die man so hinrichten kann, dass die Frauen wieder mehr Gefühl beim Geschlechtsverkehr haben. Man kann dies nicht garantieren, aber wir bemühen uns und begleiten die Frauen.
Wie erreichen wir ein Umdenken in den betroffenen Kulturen und Ländern?
Es ist wichtig, dass das Umdenken aus den eigenen Reihen kommt. Es gibt viele Frauen aus Somalia, Äthiopien oder Kenia, die sich für Frauenrechte einsetzen. Sie sind eine von ihnen und es ist in diesen Ländern hundertmal wirksamer, wenn Einheimische ein Umdenken anstreben, als wenn zum Beispiel ich das machen würde. Es ist auch viel besser, wenn ein einheimischer Iman die Menschen darauf hinweist, dass im Koran steht, das alle einen unversehrten Körper haben sollten – auch die Frauen.